endlich leben
Ende September erreichte mich in meinem Postfach ein Gedicht von Theodor Fontane wie ein buntes, welkes Blatt. Nach nur wenigen Worten fühlte ich mich angesprochen, buchstäblich in den Spaziergang durch herbstliches Laub hineingezogen. Diese Erfahrung will ich mit Ihnen teilen:
„Erinnerungen sehen mich an, haben es wohl auch sonst getan. Nur eins hält nicht mehr damit Schritt. Lachende Zukunft geht nicht mehr mit.“
Der Dichter war auf seinem Herbstspaziergang offensichtlich melancholisch gestimmt. Auf dem Spaziergang unter einem strahlenden blauen Himmel und mit goldenen Blätter überfällt ihn die Ahnung, dass nicht nur die Natur, sondern auch das eigene Leben dem Ende zugeht. Zukunft wird weniger, Vergangenheit wird größer und mächtiger. Ja, zum Herbst des Lebens gehört der Blick zurück, gehören die Erinnerungen. Oder wie es Theodor Fontane sagt:
„Den Blick in den Herbst, den habe ich frei, Den Blick in den Herbst. Aber der Mai?“
endlich leben.
Die Verantwortlichen des Gemeindebriefs haben mit diesem doppeldeutigen Titel eine doppelte Botschaft verbunden. Die eine ist: Bedenkt das Ende! Denkt dran, dass euer Leben verfliegt. Lernt deshalb, eure Tage zu zählen und ihnen Gewicht zu geben. Nur so werdet ihr klug. Auf ein Wort Nur so gewinnt euer Herz Einsicht, wie es im Psalm 90 heißt. Und die andere ist: Lebt endlich. Macht euch endlich frei von all dem Unnützen und Unnötigen, das ihr mit euch herumschleppt. Achtet darauf, was dem Leben dient, und begrenzt die zerstörerischen Kräfte der Angst und der Wut. Lebt endlich und nehmt wahr, was um euch herum an Gutem und Schönem zu sehen und zu finden ist.
Beide Botschaften sind wichtig und helfen zum Leben. Gerade im November und am Ende des Kirchenjahres mit seinen vielen Gedenktagen, an denen wir mit unserer Endlichkeit und mit unendlicher Trauer in Geschichte und Gegenwart konfrontiert werden. Theodor Fontane konnte sich auf seinem Herbstspaziergang einen neuen Anfang im Mai nicht wirklich vorstellen. Sein Gedicht endet mit der offenen Frage.
Aber das Kirchenjahr endet anders. Das Kirchenjahr endet Ende November mit einem neuen Anfang.
Am 1. Advent singen wir von den Türen und Toren die weit und hoch gemacht werden, damit Gott endlich Einzug hält in seine Welt und in seinem Licht unser endliches Leben verwandelt.
Für alle Abschiede, Umbrüche und Erfahrungen von Endlichkeit in diesem novemberlichen Herbt wünsche ich von Herzen Gottes Segen und Geleit und danke für 24 Jahre gemeinsame Wegstrecke in Ulm und um Ulm herum.
Ihre Gabriele Wulz